Manchmal kommt ein Anstoß von außen. Er berührt mich. Lässt mich nicht los. Bin ich eine Kriegsenkelin? Meine Kollegin Iris Wangermann gab dieses Mal den Anstoß. Sie fragt in ihrer Blogparade im Oktober 2022 nach dem Moment, in dem mir klar wurde, dass ich eine Kriegsenkelin bin.
Angeregt durch die Frage durchforste ich meine Vergangenheit und finde Hinweise. Es ist mir schwergefallen, hier zu schreiben. Da war dieser Gedanke, dass diese Generation doch nicht schuld ist. Sie sind traumatisiert worden. Das haben sie nicht zu verantworten. Gleichzeitig bedeutet es nicht, dass ich nicht darüber sprechen darf, dass es Gewalt in meiner Kindheit gab. Gewalt macht sprachlos. Diese Sprachlosigkeit verhindert, dass ich mein Handeln verändere. Es verhindert, dass ich Kontakt zu meinen Gefühlen habe. Wenn ich keinen Kontakt zu meinen Gefühlen habe, dann fehlt mir Mitgefühl. Dann gibt es keine Veränderung, nur Wiederholung. Ich will Veränderung und mehr Wertschätzung. Es ist mein Beitrag, dass es in der Welt friedlicher wird.
Bin ich eine Kriegsenkelin?
Ja, eindeutig. Das geht alleine schon aus den Geburtsdaten meiner Eltern und mir hervor. Manchmal haben meine Eltern über ihre Kindheit gesprochen. Diese Geschichten sind an mir vorbeigerauscht. Sie haben auf dem Land gelebt. Es sind keine Geschichten über Bomben oder Flucht. Es sind Geschichten über Hunger und abwesende Väter. Der Vater in Kriegsgefangenschaft, den meine Mutter erst im Kindergartenalter kennenlernt. Der Vater, der Westwall baute und der Mutter überließ, den Hof zu führen und 8 Kinder zu versorgen.
Seit wann bezeichne ich mich selbst als Kriegsenkelin? Genau jetzt. Davor war mir klar, dass es transgenerationale Weitergabe gibt. Traumata werden weitergegeben. Das ist ein theoretisches Wissen, keine gefühlte Realität. Bestimmt ist das bei mir ganz anders. Ich hatte doch eine glückliche Kindheit. Jeder andere Gedanke ist nicht erlaubt. Das Wort in meiner Familie für Kritik ist Nestbeschmutzer. Das hat sich verändert. Ich kann jetzt Verhaltensweisen, Geschichten, meine Gedanken einordnen. Auf der Spurensuche finde ich den Artikel „Dann, liebe Mutter, werde hart„. Es geht darum, dass die Erziehungsratschläge der NS-Zeit auch nach 1950 noch angewendet wurden. „Schlagartig“ wird mir bewusst, ich kenne diese Erziehungsmaßnahmen aus meiner eigenen Kindheit. Kriegsenkelin zu sein bedeutet in meinem Fall, dass Erziehungsideen der NS-Zeit weiter gewirkt haben.
Nebenkriegsschauplatz, oder?
Welche Geschichte wähle ich aus, um diese Erziehungsideen aufzuzeigen? Das Drohen mit dem Kochlöffel. Meine Mutter sagt, dass das doch nicht ernst gemeint gewesen sei. Gedroht hat sie. Ob ich es als Kind unterscheiden konnte, wann es leere Drohung und wann es reale Gefahr war? Ich kann es nicht mehr beurteilen. Sie war sich so sicher, dass die Erziehungsmethode „Drohen“ richtig ist, dass sie es auch an einem Elternabend erzählt haben muss. Ich war in der 8. Klasse am Gymnasium. Mein Englischlehrer sprach mich am nächsten Tag an. Er wollte wissen, ob es mir gut ginge. Ich war erstaunt und peinlich berührt. Kein Wort habe ich herausbekommen.
Zwischen Eltern und Kindern gibt es ein Machtungleichgewicht. Der Erwachsene kann Macht ausüben. Es ist eine Leistung unserer Gesellschaft, dass seit dem Jahr 2000 gesetzlich die Ohrfeige in der Familie verboten ist. Die Gesellschaft hat eine eindeutige Postion bezogen. Das feiere ich. Und ich feiere, dass meine Eltern heute weniger diesen Idealen in der Erziehung den Vorzug geben. Gegenüber ihren Enkelkindern sind sie großzügiger.
„Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“
(§ 1631 Abs. 2 BGB)
Was die Erkenntnis verändert hat?
Mein Umgang mit Menschen meiner Generation wird weicher, wenn ich berücksichtige, dass auch sie Kriegsenkel sind. Vielleicht sind sie direkt von der Traumatisierung ihrer Eltern, vielleicht indirekt vom Erziehungsverhalten ihrer Eltern betroffen. So oder so hat es eine Auswirkung. Es erklärt für mich, wie viel Distanz in Beziehungen besteht. Immer wieder geistern Erziehungsideen durch die Medien, die ihren Ursprung in der NS-Ideologie haben. Gibt es den Kleinen-Tyrannen? Muss verhindert werden, dass aus dem kleinen Arsch ein großer wird? Muss jedes Kind schlafen lernen? Braucht es eine Tigermutter? Es wird klar, dass es keine Heilung ohne Selbstreflexion und Diskussion gibt. Und es ist unsere Aufgabe, die Diskussion immer wieder anzustoßen und weiterzuführen.
Wie ich mit Macht umgehe
Neben der individuellen Aufarbeitung der persönlichen Familiengeschichte gibt es weitere Möglichkeiten der Veränderung. Ich kann mich bewusst dafür entscheiden, dass ich wertschätzend mit Menschen umgehen möchte. Es braucht Übung in der Haltung der Wertschätzung zu bleiben. Das bedeutet, Gewaltfreiheit ist kein Zustand. Vielmehr ist es ein Prozess. Es bedarf meiner Aufmerksamkeit und meiner Energie. Denn neben der direkten Gewalt gibt es kulturelle und strukturelle Gewalt. Es ist herausfordernder, diese zu identifizieren und zu transformieren. Das gelingt, wenn wir über Macht sprechen. Und auch über unsere persönlichen Gewalterfahrungen. Zugegebenermaßen ist das wirklich ungewohnt. Wer spricht in einer Besprechung denn tatsächlich aus, was es bedeutet, dass der Chef das letzte Wort hat und wie er es nutzt.
Ich bin TäterIn und Opfer. Ich übe Macht über Menschen aus. Ich brauche den anderen, der mir hilft, meinen Impuls, mein Selbstwertgefühl zu stärken durch Macht über andere Menschen, immer wieder zu transformieren in Energie für Verbindung. Als Opfer brauche ich Opfer Unterstützung, dass das, was ich erlebt habe, wirklich ist. Denn auch das gehört zu meiner Realität, dass ich zweifle, ob ich richtig fühle, ob ich mich richtig erinnere. Jede Äußerung, dass ich überempfindlich bin oder doch ein bisschen zu dramatisch, führt dazu, dass ich mich abwerte und den Gedanken verwerfe. Ich habe den Satz verinnerlicht, dass ich selbst schuld bin, dass Macht über mich ausgeübt wird. Ich habe mich nicht ausreichend gewehrt oder durch meine aggressive Verhaltensweise den anderen provoziert, sich so zu verhalten. So oder so, es ist alleine auf mich zurückzuführen. Es ist meine Entscheidung, dass ich daran arbeite. Und diese Entscheidung habe ich getroffen. Zwei Schritte vor und einer zurück – das ist ein gutes Tempo.
Möchtest du über Gewalt sprechen, dann melde dich gerne. Es ist mir eine Herzensangelegenheit, Menschen zu unterstützen, die Gewaltspirale zu beenden.
Danke für Deinen sehr ehrlichen und offenen Beitrag. Ich kann tatsächlich nicht mehr sagen, wenn genau mir bewusst wurde, dass ich eine Kriegsenkelin bin. Seit ich 20 bin, habe ich viele Themen durch Familien- oder Organisationsaufstellungen geklärt, habe selbst Ausbildungen gemacht, aber das mit den Kriegsenkeln wurde mir erst durch die Bücher von Sabine Bohde so richtig bewusst. Ab dem Zeitpunkt habe ich auch das Verhalten meiner Eltern besser verstanden. Die verwirrende „Logik“ dahinter. Die Emotionslosigkeit in meiner Familie ergab plötzlich einen Sinn. Sie sind traumatisiert und wussten es nicht besser. Erst als ich tief ins Thema Trauma eingetaucht bin, hat sich das Puzzle zusammengefügt.
Gruß, Marita
Liebe Jutta,
danke Dir von Herzen für diesen so notwendigen Artikel. Ich weiß aus meiner Begleitung, wie schwierig es für die Menschen unserer Generation ist, zum einen die eigenen Traumata ernst zu nehmen (denn sonst kann ich sie nicht auflösen) und auch zu erkennen, was nicht gut gewesen ist. Zu erkennen, dass unsere Elterngeneration das meist gar nicht konnte (sie waren mit Aufbau beschäftigt). Wenn Du Deine Traumata anerkennst und sie löst, dann machst Du das immer für alle, die vor uns gekommen sind und alle, die nach uns kommen werden. Und manchmal wird man dafür zum schwarzen Schaf der Familie gemacht. Weil man sich traut, da hin zu schauen und den Knoten zu lösen. Viel Achtsamkeit und Liebe ist da notwendig. Die lese ich bei Dir und zwischen den Zeilen.
Herzliche Grüße, Iris
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